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„Grüne Finger“ für eine klimaresiliente Stadt

Angesichts der zunehmend spürbaren Folgen des Klimawandels steigt die Dringlichkeit, in unseren Städten Antworten für diese Herausforderungen zu finden. Ein zentraler Ansatzpunkt liegt in den städtischen Grün- und Freiräumen, insbesondere wenn sie, wie in Osnabrück, strahlenförmig in Richtung Innenstadt angeordnet sind. Gemeinsam mit vielen Akteuren hat ein Team der dortigen Hochschule daran geforscht, wie diese „Grünen Finger“ als klimaresiliente Grundstruktur trotz großer Nachfrage nach Bauland erhalten werden können.

Klimaanpassung in Städten: Zunehmende Versiegelung der Böden durch Umwandlung von Freiräumen am Stadtrand in Baugebiete, aber auch durch Nachverdichtung der Innenstädte, verschärfen die Auswirkungen des Klimawandels besonders in den Städten weiter. Die Hitzebelastung der dicht bebauten und hoch versiegelten Stadtbereiche kann um bis zu 10 °C gegenüber dem Umland steigen. Gleichzeitig gehen natürliche Rückhalteräume für vermehrt auftretende Hochwasser- und Starkregenereignisse verloren, aber auch natürliche Wasserspeicher für zunehmend längere Trockenperioden.

Einen zentralen Beitrag für die Klimaanpassung leisten städtische Grün- und Freiräume, insbesondere als wirksames funktionales, möglichst miteinander verbundenes Netz, von der EU als „Grüne Infrastruktur“ bezeichnet. Als Prototyp einer klimaresilienten Stadt gelten sternförmige Stadtstrukturen, wie zum Beispiel noch eine in Osnabrück zu finden ist. Hier ist die Stadt in ihrem Kern kompakt und geprägt durch kurze Wege. Die weit in den bebauten Raum hineinragenden Freiräume sind gut von den angrenzenden Quartieren für Erholung oder sportliche Aktivitäten zu erreichen.

Gesamtstädtische Freiraumsysteme als wirksame Struktur

Für den Fortbestand dieser stadtnahen Freiräume spielt auch die landwirtschaftliche Nutzung eine wichtige Rolle, denn gerade die Ackerflächen, Wiesen und Weiden sind nicht nur für die Produktion von Lebensmitteln, sondern auch für die Kühlung der Stadt von besonderer Bedeutung. Hier entsteht durch Verdunstung Kaltluft, die über Kaltluftleitbahnen in Richtung der wärmebelasteten, aufgeheizten Quartiere der Stadt geleitet wird. Neben dem Durchlüften und Kühlen der Stadt bieten die „Grünen Finger“ außerdem ideale Voraussetzungen für die Rückhaltung und verzögerte Abgabe des Niederschlagswassers und den Naturschutz. Ihre Anbindung an die Wohnquartiere über ein Wegesystem für Fußgänger und Radfahrer macht sie für die Stadtbevölkerung erfahrbar.

Die Idee der „Grünen Finger“ in Osnabrück lässt sich bis zu dem in den Zwanzigerjahren des letzten Jahrhunderts wirkenden Stadtbaurat Lehmann (1928) zurückverfolgen. Dennoch wurde sie in der Stadt lange Zeit kaum planerisch-konzeptionell weiterentwickelt. Bei der Suche nach wirksamen Anpassungsstrategien an den zunehmend auch in Osnabrück spürbaren Klimawandel rücken aktuell die Bedeutung dieser verbliebenen Freiräume für die Stärkung der Klimaresilienz wieder vermehrt in den Fokus: Unter dem zunehmenden Wachstumsdruck der Stadt, zum Beispiel durch Baugebiete und andere Vorhaben, drohen die „Grünen Finger“ ihre Funktionsfähigkeit zu verlieren.

Gestalten eines transdisziplinären Planungsprozesses

An dieser Flächenkonkurrenz zwischen Erfordernissen der Klimaanpassung und Freiraumsicherung auf der einen und weiterer Flächenneuinanspruchnahme für Siedlungszwecke auf der anderen Seite setzt das „Grüne Finger“-Projekt an, in dem verschiedene Fachdisziplinen der Hochschule Osnabrück mit der Stadtverwaltung als Praxis- und Verbundpartner zusammengearbeitet haben. Dabei wurden zwei Forschungsfragen im engen Wechselspiel miteinander bearbeitet: Welche Freiraumfunktionen müssen erhalten oder entwickelt werden, um die Klimaresilienz der Stadt zu verbessern? Welche soziokulturellen Praktiken müssen angesichts der Herausforderungen des Klimawandels bewusst verändert oder beendet werden, um das Ziel einer nachhaltigen, klimaresilienten Stadtentwicklung zu erreichen? Von Beginn an wurde mit Akteur:innen aus Politik, einem Bürgerbeirat und einer Schlüsselpersonengruppe in einem transparenten, prozesshaften Dialog gemeinsam an der Entwicklung von Lösungsansätzen gearbeitet.

Im Laufe des Projekts konnte eine Bewusstseinsbildung für die Bedeutung der „Grünen Finger“ erhöht werden. Einerseits sind unterschiedliche bürgerschaftliche Initiativen zur „Rettung der Grünen Finger“ entstanden, andererseits ist die Sicherung der „Grünen Finger“ zum Thema des Kommunalwahlkampfs im September 2021 und eines kommunalpolitischen Diskurses geworden. Nach kontroverser Diskussion über den Umfang und Verbindlichkeit des Schutzes der „Grünen Finger“ hat der Rat der Stadt Osnabrück in seinem Beschluss vom 27. September 2022 „… den Wert der Grünen Finger als identitätsstiftendes und strukturgebendes Freiraumsystem mit herausragender Bedeutung für eine zukunftsfähige, klimaresiliente Stadt an[erkannt]. Er verpflichtet sich zu ihrem Schutz und zur Weiterentwicklung der Funktion der Grünen Finger für Klimaanpassung, Klimaschutz, Landschaftserleben, Biodiversität und Landwirtschaft.“

Dies erfordert eine grundlegende Veränderung in der Stadtentwicklung. Fragen der weiteren Siedlungsentwicklung und des Stadtumbaus müssen wieder stärker von den Freiräumen her gedacht und unter Berücksichtigung ihrer komplexen Wirkungen auf das Erreichen der Klimaschutz- und Klimaanpassungsziele umgesetzt werden.

Übertragbare Ergebnisse

Auch andere Städte stehen vor dieser Herausforderung, die widerstreitenden Interessen zu einem Aus-gleich zu bringen. Über Osnabrück hinaus hat das Projekt Empfehlungen formuliert, die den notwendigen Wandel fördern können:

Blau-grüne Lösungen

Abgesehen von der notwendigen Veränderung der Planungskultur sind konkrete Maßnahmen zum Verbessern der Freiräume, hier konkret der „Grünen Finger“, notwendig, damit sie angesichts des Klimawandels auch zukünftig wirksam ihre Funktionen erfüllen können. Neben dem Erhalten und Schaffen von Grün steht hier vor allem die Versorgung mit ausreichend Wasser im Vordergrund. Weniger Versiegelung, mehr Rückhalt und verlangsamte Abführung von Niederschlagswasser, kurz die Entwicklung unserer Städte zu „Schwammstädten“, sind ein zentraler Ansatzpunkt für verbesserte Klimaresilienz.

Auch in Osnabrück müssen einzelne „Grüne Finger“, zum Beispiel als Teil des „Schwammstadtkonzepts“, zu „Schwammbereichen“ entwickelt werden: Sie nehmen das Wasser aus den Siedlungsbereichen auf und speichern es zwischen, um auch über Trockenperioden hinweg eine optimale Kühlleistung zur Verfügung stellen zu können. Alle, die in ihrem urbanen Umfeld zur Klimaresilienz beitragen wollen, sollten auf einen ausreichenden Grünbestand, möglichst wenig Versiegelung und möglichst viel Rückhaltung von Niederschlagswasser achten und sich aktiv in Prozesse einer klimaresilienten Stadtentwicklung einbringen.

Prof. Hubertus von Dressler Professur Landschaftsplanung, Landschaftspflege Lea Nikolaus Wissenschaftliche Mitarbeiterin Fakultät Agrarwissenschaften und Landschaftsarchitektur, Hochschule Osnabrück 49009 Osnabrück lea.nikolaus@hs-osnabrueck.de https://www.hs-osnabrueck.de/wir/fakultaeten/aul/

Weiterführende Informationen: https://www.fona.de/de/massnahmen/foerdermassnahmen/Klimaresilienz/gruenefinger.php

Donnerstag, 11.05.2023