Drei Fragen – Drei Meinungen

Interviews

Stimmen aus der Branche: Dr. Christine Lemaitre, DGNB / Andreas Miltz, Renowate / Diana Anastasija Radke, BiB und KVL Bauconsult

1. Diese Ausgabe des Klimajournals steht unter dem Leitmotiv „Standardisierung“. Wie blicken Sie und Ihre Institution auf das Thema?

Dr. Christine Lemaitre: Das sehen wir zweigeteilt. Einerseits haben wir zu viele Standards, die zu sehr auf die Vorgabe von Maßnahmen und Einzelthemen fokussieren und das Bauen verkomplizieren. Andererseits gibt es wichtige Themen, bei denen wir Standards im Sinne eines einheitlichen Verständnisses brauchen. So auch beim nachhaltigen Bauen, wo viele unterschiedliche Ansätze zur Nachhaltigkeitsbewertung existieren. Diese Parallelentwicklungen verwirren nicht nur, sie kosten alle am Bau Beteiligten auch viel Zeit und Geld. Beides wird dringend für qualitätvolle Gebäude gebraucht – nicht im Wettbewerb der Definitionen.

Wie zielführend ein Vereinheitlichen wäre, belegt ein unabhängiges Rechtsgutachten, das wir von der DGNB in Auftrag gaben, um den Status quo der Nachhaltigkeitsbewertung von Gebäuden in Deutschland zu analysieren. Es zeigt klar, dass es hierzulande kein homogenes Verständnis zu den Anforderungen an das nachhaltige Bauen gibt.

Andreas Miltz: Für das Ziel der Renowate, den Gebäudebestand als Gesamtlösungsanbieter für serielle energetische Sanierung zu dekarbonisieren, ist das Thema „Standardisierung“ ein Kernelement. Denn nur mit einer hohen Standardisierung ergibt sich die Chance, in kurzer Zeit große Bestandsgebäude effizient energetisch zu sanieren.

Wir verfolgen dabei einen seriellen Sanierungsansatz, bei dem durch den Einsatz von vorgefertigten Modulen und standardisierten End-to-End-Prozessen eine erhebliche Verkürzung der Sanierungszeit erreicht wird, die lediglich einen Bruchteil im Vergleich zur konventionellen Renovierung beträgt.

Die Definition von standardisierten Prozessen und deren stetige Optimierung ermöglichen es, in vielen Schritten der Planung und der Ausführung der seriellen Sanierung eine deutliche Effizienzsteigerung zu erreichen.

Diana Anastasija Radke: Zwiegespalten! Einerseits gibt es Bereiche innerhalb des Themenfelds „Bauen im Bestand“, bei denen Standardisierung durchaus Sinn ergibt – andererseits gibt es Bereiche, bei denen viel mehr Experiment möglich gemacht werden sollte. Wie kann man auf Fragen, die noch nicht gestellt wurden, mit Standardantworten reagieren? Hier muss eine flexible, passgenaue und individuelle Lösung möglich sein.

Auf die so genannten „FAQ“ des Bauens im Bestand, die wir unsere „Ja, aber …“ nennen, versuchen wir als Verband mit Standards zu antworten. Hier ein Beispiel: „Ja, aber die Kosten im Bestand sind nicht transparent planbar.“ Darauf haben wir mit der „BIB 276“ geantwortet – eine Kostenstruktur, die an die DIN 276 angelehnt ist und als Standard für die Kostenermittlung und -verfolgung beim Bauen im Bestand am Markt etabliert werden soll.

2. In welchen Fällen sind für Sie Standards/Normen/Zertifizierungen besonders hilfreich, wo eher hinderlich? Nennen Sie dazu bitte ein konkretes Beispiel aus Ihrer Praxis – etwa aus der Nachweis-, Prozess- oder Produktgestaltung.

Dr. Christine Lemaitre: Im Bausektor sind allgemeingültige Standards unabdingbar, wenn es um sicherheitsrelevante Themen, wie zum Beispiel die Statik, geht. Hinderlich sind dagegen Vorgaben, die nicht ganzheitlich formuliert und gedacht sind und nicht auf den Kontext eines Gebäudes eingehen. Ein großes Problem sehen wir bei der nachhaltigen Sanierung des Gebäudebestands. Hier gelten meist dieselben Anforderungen wie an den Neubau. Diese einzuhalten ist mit viel Aufwand und hohen Kosten verbunden und noch dazu oft sinnfrei.

Die Konsequenz ist, dass neben dem Sanierungsstau nach wie vor viel zu viel abgerissen wird. Nicht selten, um nahezu identischen Neubauten zu weichen. Das treibt das Verschwenden endlicher Ressourcen und die CO!SUB(2)SUB!-Emission weiter in die Höhe. Um die Klimaschutzziele zu erreichen, kommen wir um den Erhalt und die energetische Ertüchtigung des Gebäudebestands nicht herum. Um Sanierungsmaßnahmen zu erleichtern, müssen die Regularien dringend angepasst werden.

Andreas Miltz: Das serielle Sanieren lebt von einer hohen Standardisierung im gesamten Planungs- und Bauprozess. Ein gutes Beispiel ist unsere Mieterkommunikation: In jedem großen Projekt fallen ähnliche Herausforderungen mit den Betroffenen an. Daher haben wir ein standardisiertes Mieterportal entwickelt, über das wir sämtliche Interaktion vor, während und nach der Baumaßnahme kanalisieren und strukturiert bearbeiten.

Andererseits gibt es Konstellationen, in denen starre Standards für das serielle Sanieren herausfordernd sein können: Bauen im Bestand muss im Vergleich zum Neubau immer die Situation vor Ort berücksichtigen und darauf aufbauen. Umso schwerer ist es, die vielen Normen und Prozesse individuell sachgerecht zu implementieren und gleichzeitig effizient und wirtschaftlich für den Auftraggeber und den Mieter zu arbeiten. So ist für jedes Projekt zu Beginn die häufig reichlich zeitintensive Planbeschaffung beim lokalen Bauamt erforderlich.

Diana Anastasija Radke: Dort, wo sie helfen und nicht verhindern. Das klingt vielleicht etwas platt und polemisch, aber lassen Sie es mich erläutern. Im Bereich des Neubaus zum Beispiel haben Standards geholfen! Man greift in eine Schublade und hat eine Lösung – wunderbar. Sie können auch vorantreiben – die Transformation unseres Sektors zum Beispiel. Man denke nur an das Thema „EU-Taxonomie“ und „ESG-Kriterien“ („Environmental, Social, Corporate Governance“: Umwelt-, Sozial- und Regierungs-/Amts-/Unternehmensführung).

Standardisierung in Sachen Nachhaltigkeit bei Neubauten ist genial! Aber wie sieht es da im Bereich des Bestands aus? Ergibt es Sinn, Bestandsgebäude genauso zu behandeln wie Neubauten? Was ist mit dem Berücksichtigen der „grauen Energie“? Geht es hier tatsächlich um echte Nachhaltigkeit oder nur um das Freiprüfen durch ein Zertifikat? Standards sind gut – jedoch nicht, wenn gleiche Standards für unterschiedliche Produkte und Objektarten gelten.

3. Wo sehen Sie den größten Bedarf an „Standardisierung“ in Ihrem Markt/in Ihrer Branche? Warum und wie sähe Ihre Wunsch-Lösung aus? Bitte mit kurzer Erläuterung.

Dr. Christine Lemaitre: Wie in Frage 1 beschrieben, konnten wir mit einem Gutachten belegen, dass das nachhaltige Bauen in Deutschland aufgrund von Überregulierung gebremst wird. Aus diesem Grund fordern wir das Etablieren eines einheitlichen deutschen Nachhaltigkeitsstandards, damit alle in die gleiche Richtung arbeiten. Ein gemeinsames Verständnis würde neben mehr Klarheit in der Planung und Umsetzung nachhaltiger Gebäude für mehr Investitionssicherheit sorgen.

Daher haben wir uns offiziell bereit erklärt, das bewährte DGNB-Zertifizierungssystem für das Erarbeiten eines europakonformen und transparenten Systems zur Verfügung zu stellen. Zeit, alles noch mal neu zu entwickeln, haben wir nicht. Mit mehr als 10.000 Auszeichnungen und einem intensiven, partizipativen Weiterentwicklungsprozess bildet das DGNB-System unserer Meinung nach zu Recht die richtige Grundlage für ein gemeinsames Regelwerk.

Andreas Miltz: In der deutschen Baubranche ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt kein einheitlicher Standard hinsichtlich der Landesbauordnungen definiert. Dies erschwert die Bedingungen für die standardisierte Umsetzung und Skalierung des seriellen energetischen Sanierens. Beispiele für erforderliche bundeseinheitliche Regelungen wären aus unserer Sicht:

Den gleichen Bedarf für das Vereinheitlichen von regionalen Bauordnungen gibt es übrigens auch in Österreich und in der Schweiz.

Diana Anastasija Radke: Das größte Potential für Standardisierung liegt im Bereich der Kreislaufwirtschaft. Das Wiedereinbringen bereits benutzter Materialien und Einbauten in den Kreislauf bedarf eines standardisierten Vorgehens. Re-use, nicht recycle, ist der Schlüssel zu einer rohstoffschonenden Bauwirtschaft. Dafür muss ein standardisierter Prozess für die Re-Zertifizierung von Baustoffen aufgebaut werden, sodass das oft gehörte „Ja, aber wer garantiert mir denn die Qualität der Re-use Materialien?“ immer eine Antwort findet.

Einen Grundstein bildet die DIN SPEC 91484. Dieses Verfahren zum Erfassen von Bauprodukten legt die Basis für Bewertungen des Anschlussnutzungspotentials vor Abbruch- und Renovierungsarbeiten fest, sodass alle Marktteilnehmenden über eine ausreichende und einheitliche Datentiefe an allen Stellen der Wertschöpfungskette verfügen. Mit solchen Standardisierungen ist vielen geholfen – besonders unseren nachfolgenden Generationen.

Mittwoch, 22.05.2024